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Marginalien zum "Organisationsreferat"

von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der 22. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes am 5. September 1967

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an sich zu verändern" R. Dutschke

Um ihre Persönlichkeit durchzusetzen, so sagte Marx einmal, deshalb werden die Arbeiter nicht umhin kommen, das Kapital aufzuheben. Über die Persönlichkeiten beider Autoren jenes Dokumentes, das hier mit einigen Randnotizen versehen werden soll, gibt es Zeugnisse von auffälliger Ähnlichkeit. Einleitend in eine Tonbandtranskription einer Schulung Krahls schreibt Heinrich Brinkmann, dieser hätte auch sich selbst "unmittelbar in politischen Kategorien" reflektiert, und er vermutet, dass dies "die Faszination der 'Angaben zur Person'", jener intellektuellen Autobiographie also, die Hans-Jürgen Krahl im Senghor-Prozess gab, "für die bürgerlich liberalen Intellektuellen ausgemacht" habe, "denn Krahl führt hier einen Typus von Reflektion vor, der in dieser Strenge und Fähigkeit der Umsetzung einer Lebensperiode in totalitätsbezogenen Begriffen für die bürgerliche Theorie nur unter dem Anspruch einer geschlossenen Systematik zu vollziehen ist; also heute nicht mehr von ihr geleistet werden kann." Brinkmann missversteht jedoch Krahl noch nach eben diesem, wenn auch nunmehr gegen sich selbst gekehrten systematischen Anspruch, wenn er im Weiteren meint, diese Strenge wäre mit einer Abstraktion vom Besonderen der Person erkauft, denn nur nach einem bereits in Dekadenz übergegangenen bürgerlichem Subjektivitätsverständnis ist das eigentlich Persönliche das, was sich dem sich ausweitendem System gesellschaftlicher Bestimmtheit als nicht-identischer Rest noch zu entziehen weiß. Wahrhafte Persönlichkeit aber ist, so bestimmte sie einst Karl Rahner, durch das Vermögen gekennzeichnet, sich selbst als Person zu erfassen und aus diesem Selbstbewusstsein heraus zu handeln. In der Annahme ihrer letzten Bedingtheit entdeckt sie ihre Freiheit; im Lichte dieser Freiheit aber werden aus den Bestimmungen historischer Determination, Aufgaben, Bedingungen, Inhalte des freien Handelns und zwar genau in dem Maße, so schrieb Rudi Dutschke selbst, wie die bewusste Einordnung der eigenen "Individualität in den Prozess der geschichtlichen Gewordenheit" gelingt, "um all die eigene Latenz und Potenz zur Entfaltung zu bringen, daran zu arbeiten, die gewordenen Schranken im Rahmen der objektiven Möglichkeiten brechen zu können." Auch "zu den Eigenarten seines", Dutschkes, "Denkens", bemerkte Friedrich Wilhelm Marquardt, "und damit auch seines Selbstverständnisses gehörte es, alles, was ihm geistig, seelisch, politisch wichtig war, in gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen -- nicht, um sie von daher mehr oder weniger primitiv 'abzuleiten', vielmehr um sich eines größeren Zusammenhangs der Themen seines Denkens und Fühlens, der Art und Methode ihrer Bewusstwerdung und ihres sprachlichen Ausdrucks zu vergewissern." Er hätte, so Marquardt, "versucht, sich als geschichtliches Wesen zu begreifen". In diesem Sinne ist die Kenntnis der Persönlichkeiten der Autoren tatsächliche Bedingung auch einer materialistischen Hermeneutik des Organisationsreferats, denn wenn man den nachträglichen Versuch einer Extrapolation unternimmt dadurch, dass man das Überkommene der Inhalte der Rede gegen das Neuen darin stellt, um so dies Neue auf seinen eigenen Begriff zu bringen, dann findet sich eben hier der entscheidende, epistemische Unterschied zwischen der traditionell kritischen und einer neuen "praktischen Theorie", zwar in der Latenz von Tagesbezügen, aber gerade darum auch in der würdigen Form des Konkreten. Wenn die "Autonomie des ... Subjektes restituiert werden soll" dann muss das, was den "Dingen prädiziert" wurde, so Krahl, als zum ursprünglichen Subjekt gehörig, und von ihm reklamierbar ausgewiesen werden, andernfalls bleibt die Frage, wie das fetischisierte Bewusstsein, Widerspiegelung realer Verkehrung, sich über diese erheben kann, gleichwohl es durch deren Wirklichkeit vollständig bestimmt sein soll, ein unlösbares Rätsel. Diese Anforderung praktischer Vernunft hat weitreichendere Konsequenzen, als es zunächst den Anschein haben mag, denn sie erheischt eine Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie als Revolutionstheorie. Krahl findet prägnante Worte für den notwendigen Perspektivenwechsel: "Die Frage: warum lassen sich die Lohnarbeiter ausbeuten, wäre also präziser zu fassen: Warum lehnen sich die Lohnarbeiter nicht gegen das Kapitalverhältnis auf?" "Die naheliegendste Antwort darauf, dass sie im Falle einer Verweigerung ihren Lohn vom Kapitalisten nicht erhalten würden, ist zwar nicht falsch und enthält den Hinweis auf die realen ökonomischen Herrschaftsverhältnisse; sie ist jedoch historisch keineswegs so selbstverständlich, wie sie erscheint: In Wirklichkeit hängt sie von der Beantwortung der Frage der Möglichkeit der Revolution ab. Denn eine Verweigerung der Arbeiter der Ausbeutung ... gegenüber, würde den materiellen Kampf gegen jene ökonomischen Machtverhältnisse implizieren, die allererst die Voraussetzung dieser Frage sind ... nur auf dem Sachverhalt, dass sie sich ausbeuten lassen, beruht die Reproduktion des Kapitals ..." "Das Bewusstsein des Proletariats ... ist Träger des kapitalistischen Reproduktionsprozesses ... oder tendiert nach Maßgabe des Möglichen zu dessen Zerstörung." "Bewusstseinskategorien sind Basiskategorien." Der Marxismus müsse, wie Krahl es forderte, seinen "kategorischen Imperativ", alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, verächtliches und verlassenes Wesen ist, in "hypothetischen Imperativen", wie dieser Auftrag unter immer neu zu vergegenwärtigenden historischen Bedingungen zu verwirklichen möglich sei, auch kategorial zu fassen lernen, um wahrhaftig eine Theorie der Praxis werden zu können. Auch "das 'Wesen' der kapitalistischen Produktionsweise", die Wertsubstanz abstrakter Arbeit, ist "in die geschichtliche Dynamik mit einbezogen". Eine Historisierung der ökonomischen Kategorien macht sie zugleich als "Daseinsformen", "Existenzbestimmungen" und "objektive Denkformen" wieder transparent; sie sind begrifflicher Ausdruck fortschreitender realer Abstraktionen in den Produktionsverhältnissen. Realer Abstraktionen von was?

Josef Revai schrieb bereits 1923 in seiner Rezension von Lukacs "Geschichte und Klassenbewusstsein": "Das Proletariat, das durch seine eigene Unmenschlichkeit das Nicht-Sein des Menschen aller Klassengesellschaften begriffen hat, setzt doch irgendwelchen 'seienden' Menschen, d.h. irgendwelchen bloß negativ bestimmten Menschen voraus, zu dessen 'Natur' das Beherrscht-sein durch gesellschaftliche Naturgesetze nicht gehört, dessen Verwirklichung durch das Proletariat das Ziel des Geschichtsprozesses ist, der also als bloßes Subjekt-Korrelat dem Geschichtsprozess als ihm transzendent innewohnend zugeordnet werden muss." Wie bei Brinkmann gibt es auch noch bei Revai eine hegeliane Befangenheit dem Neuen der praktischen Theorie gegenüber, die ihr letztes Begreifen verhindert. Der "neue Mensch" ist eben nicht das Ziel eines hypostasierten "Geschichtsprozesses", sondern einzig das des um seine Befreiung kämpfenden Proletariats selbst. In dessen umwälzender Praxis, den radikalen Bedürfnissen, hat der "neue Mensch" seinen Vorschein und die Objektivität einer bestimmten Möglichkeit. Überhaupt ist die neue Theorie dadurch gekennzeichnet, die akute Wirksamkeit des Möglichen, das Noch-Nicht für die revolutionäre Praxis entdeckt zu haben. Hiernach, von der Mitte dieses Telos aus, sind die eine auf der anderen gründenden realen Abstraktionen ein System von Skotomisationen dieser umfassenderen, die Dimension der Möglichkeit einbegreifenden Wirklichkeit.

"Wir denken und verkehren", sagt Krahl "nur in dieser kategorialen Struktur, und das ist eine Wirklichkeit ... wenn wir uns nur in Kategorien verständigen, dann ist in der Tat unsere ganze Realität kategorial, dann ist Realität selbst eine Kategorie." Aber diese kategoriale "Realität trifft die besondere Verfassung der Realität nicht, der Begriff gleitet daran ab." Aus der "Bewusstseinsimmanenz", in der eine Reflexivbestimmung die andere stützt", ist Marx zu folge nur herauszukommen, wenn gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden, in denen Kategorien wie der Wert nicht mehr herrschen, wenn sich die Abstraktionsstruktur des Denkens selber verändert hat."

Dass der "Gegenstand als Totalität" nur "begriffen und umgewälzt werden" kann "durch ein Subjekt, das ebenfalls eine Totalität ist", diese Überlegung Revais ist darum die Voraussetzung, die Organisationsfrage als revolutionäre überhaupt erst stellen zu können. In der revolutionären Organisation müssen jene "gesellschaftlichen Verhältnisse", Verkehrsformen geschaffen werden, in denen, nach Krahl, "die Menschen sich nicht gegenseitig wie Dinge behandeln, sondern die einzelnen Subjekte sich in ihrer Objektivität als besondere Subjekte anerkennen", um über die organisierte "praktisch-kritische Tätigkeit" "die Abstraktionsstruktur des Denkens selber" zu verändern -- das ist die oft missverstandene Dialektik von direkter Aktion und Aufklärung. "Weil uns diese Aktionen innerlich verändern, sind sie politisch. Politik ohne innere Veränderung der an ihr Beteiligten ist Manipulation von Eliten", mit diesen lakonischen Worten greift Dutschke einen Politikbegriff wieder auf, der von Wilhelm Reich zu ungefähr der gleicher Zeit als Lehre auf die Niederlage der Arbeiterbewegung vor dem Nationalsozialismus formuliert wurde, in der auch Walter Benjamin, sich die selbe Aufgabe stellend, in seinen "Thesen über den Begriff der Geschichte" gegen den scheinmarxistischen Historismus gewandt forderte, die Gegenwart still zu stellen und das "Kontinuum der Geschichte aufzusprengen", um so dem Handelnden Raum zu schaffen. In der "Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie" stand: "Die menschliche Struktur wirkt auf ihre Grundlage zurück ... die menschliche Struktur ist sozusagen der Zentralbahnhof, an dem alle Gleise zusammenlaufen und von dem alle Gleise ausgehen; und das was wir unter 'Politik' meinen, spielt sich weder im Unter- noch im Überbau ab, sondern wird praktisch erst dann effektiv, wenn es sich in der Struktur abspielt." Um einem böswilligen Missverständnis vorzubeugen, muss betont werden, dass hier keine sterile selbstmanipulative Veränderung "des Menschen" als eines dem Einzelnen "innewohnenden Abstraktums" avisiert ist, sondern die Selbstveränderung des Einzelnen innerhalb der gesellschaftlichen Totalität als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Damit ist der "Klassenkampf" also keineswegs suspendiert, aber er musste von Rudi Dutschke neu, präziserer definiert werden "als Menschenwerdung über einen Selbstveränderungs-Prozess der kollektiven Individuation". Mit dem Entstehen einer revolutionären Organisation wird die "Diremption" der Welt total, weil durch sie, die manifeste Antizipation der befreiten Gesellschaft, wie Marx vorhersagte, beide Seiten derselben Welt zu Totalitäten geworden sind. Durch die Subversion "der Herrschaft des abstrakt Allgemeinen" in der "Gesellschaft" und im "Individuum" können dann, waren sich Krahl und Dutschke einig, aus "geschichtlichen Minderheiten bewusste Mehrheiten werden", wenn "mit dem prozessualen Zusammenbruch des etablierten Systems von Institutionen" in dialektischer Parallelität der Aufbau neuer, menschlicherer Selbstorganisationen einhergeht, also die Schaffung von konkret Allgemeinem, Gemeinschaft "und zwar in allen Bereichen."

Die Einsicht in jene "tiefste Wahrheit der neuen Wissenschaft" ist erste Voraussetzung, um aus dem im Organisationsreferat keimhaft Angelegten gegenwartsrelevante Konsequenzen ziehen zu können; sie "bestand und besteht gerade darin", schreibt Rudi Dutschke unter dem Titel "weiteres Herantasten an den kritischen Materialismus", "dass sich die Menschwerdung des Menschen als Grundinhalt des realen Prozesses der Geschichte in jeder konkreten Individualität und deren Daseinsgeschichte verwirklicht. In welcher widersprüchlichen Form auch immer ist jedes konkrete Individuum in jeder Produktionsweise Subjekt und Objekt, Produzierender und Produkt. Hierbei geht es um die historisch gewordenen Schranken und Möglichkeiten der Gattungsmäßigkeit des Menschen, um den latent und potentiell immer tieferen Konnex zwischen Individualität und Gesellschaftlichkeit. Alle Versuche, die Gesellschaft dem Individuum entgegen zu setzen -- oder umgekehrt --, sind Ausdruck alter Wissenschaft und der Legitimation herrschender Verhältnisse."

Das Hans-Jürgen-Krahl-Institut wird in Kürze eine ausführliche Monographie zur Aktualität des Organisationsreferats veröffentlichen