Rezension in "Das Argument"
Praktischer Sozialismus. Antwort auf die Krise der
Gewerkschaften.
Von Bernd Röttger (Braunschweig)
Verf. machen sich auf den Weg der "Wesensbestimmung der Gewerkschaften", um aus der "daraus zu folgernden allgemeinen Entwicklung […] Ansätze zur Überwindung der gegenwärtigen Krise zu gewinnen" – wohl wissend, dass der Rahmen einer kurzen Broschüre "die Explikation einer allgemeinen Gewerkschaftstheorie nicht zu[lässt]" (9). Für Verf. besteht kein Zweifel: Gewerkschaften fungieren nicht als "revolutionäre Organisationen" (10), sondern – weil ihre Existenz an das Lohnarbeitsverhältnis geknüpft ist – als Kräfte der "Verrechtlichung" (11), die "eine andere Zielvorstellung als die Vollbeschäftigung" ausschließen (13).
Nicht nur aber Gewerkschaften seien durch ihre Konzentration auf die Zentren des Lohnarbeitsverhältnisses "unfähig, die Einheit proletarischen Klasse herzustellen" (ebd.); auch die politischen Parteien der Arbeiterbewegung müssen in dieser Absicht als "organisatorischer Ausdruck der notwendigen staatlichen Einbindung der gewerkschaftlichen Interessen" scheitern (14). Diese Kernthese wird in Exkursen zum "bürgerlichen Staat" (12f) und zum "Staatsinterventionismus" (16ff) – methodisch als "Kapitallogik" und "Ableitung" (25) exerziert – begründet. Statt Krise und Perspektiven der Gewerkschaften aus der realen Widerspruchsentwicklung gewerkschaftlicher Politik in den "fortgeschrittenen Staaten" (Gramsci) begrifflich zu entfalten, verwenden Verf. eine abstrakt-marxistische Terminologie, der man solange noch zu folgen vermag, wie sie abstrakt-logisch daherkommt, kaum aber mehr, wenn sie versucht, aktuelle Bezüge zur Krise der Gewerkschaften herzustellen.
So identifizieren Verf. die Krise der Gewerkschaften vorrangig als eine "Krise der politischen Einbindung" (21). Warum diese Krise aber in der richtig konstatierten Entkräftung der Wirkungsmacht von Tarifverträgen (21ff) zum Ausdruck kommen soll, bleibt im Unklaren; die konkrete Bestimmung des Verhältnisses von betrieblichen, tariflichen und (sozial-)staatlichen Regulationen bzw. Kämpfen sowie deren spezifische Machtressourcen lassen sich nicht auf dem Weg der "Ableitung" erhellen. So wird der "Doppelcharakter der Gewerkschaft" zwar erwähnt (27), aber in seiner konkreten Gestalt nicht ausbuchstabiert.
Um der sich in der "Wesensbestimmung" notwendig ausbildenden pessimistischen Verdüsterung zu entkommen, wählen Verf. Karl Korschs Anmerkungen zum Sozialismus als "Verneinung" kapitalistischer Realitäten. Sie heben hervor, "dass ein die grundlegenden Produktionsverhältnisse revolutionierendes Projekt sich innerhalb der von diesen Strukturen gesteckten Rahmenbedingungen entwickeln und zugleich als Gegenmacht selbst konstituieren muss" (26). Soweit, so gut. Den entscheidenden Durchbruch erblicken Verf. sodann in einer revitalisierten Gemeinwirtschaft: "In dem Maße, wie sich die Arbeiterbewegung von Kapital und Staat selbstständig machte und den ‚Sozialismus in einer Klasse’ durch den Ausbau der Gemeinwirtschaft selbstorganisierte, verlöre die Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust tendenziell an Wirkung und könnte der Arbeitskampf direkt mit dem Ziel geführt werden, das bestreikte Unternehmen zu sozialisieren, seine Eingliederung in die Gemeinwirtschaft vorzubereiten" (29f).
Ein hehrer Horizont radikaler Formveränderung gewerkschaftlicher Politik, der aber kaum die Kräfteverhältnisse und Auseinandersetzungen (auch innerhalb der Gewerkschaften) berücksichtigt. Von der tatsächlichen Geschichte der Gewerkschaftsbewegung erfährt man wenig; die Krisendiagnose orientiert sich an einer Sekundärliteratur (Riexinger/Sauerborn, Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle. Supplement Sozialismus 10/2004). So muss die These eines gewerkschaftlichen Neubeginns, der "bereits in der allgemeinen Entwicklungslogik der traditionellen Gewerkschaften angelegt" ist (28) abstrakt bleiben, da die Krisenprozesse dieser traditionellen Gewerkschaftspolitik unanalysiert bleiben.
Zwar hat schon Marx in der Inauguraladresse u.a. den Owenismus als "Sieg eines Prinzips" gefeiert (MEW 16, 11f), jedoch eher in einem Sinn, den Verf. kaum berücksichtigen: als Prozess der Klassenkonstitution, als Prozess lernender Assoziierung der Lohnarbeiter, in dem sich autonome Zielsetzungen des Kampfes der Arbeiterbewegung und ihrer vollständigen Emanzipation andeuten. Genau dieser Gedanke praktischer Selbstveränderung (vor allem durch Räte) stand auch bei Karl Korsch als Paten des Broschürentitels im Mittelpunkt. Die erneute Verortung kritischer Gewerkschaftsforschung in einer kapitalismustheoretischen Perspektive zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist in der Tat nötig; diese Arbeit aber wäre noch zu leisten und kann nicht auf der Grundlage eher definitorisch bestimmter "allgemeiner Entwicklungstendenzen" erfolgen. So erschöpft sich die Botschaft der Verf. in einem Satz, den der Dichter Peter Rühmkorf in die geniale Kurfassung brachte: "Wer inhaltlich etwas gewinnen will, muss formal etwas opfern".
Wir danken dem Autor für die Genehmigung, seinen Text auf unserer Website zu publizieren.
Stand: Dezember 2008
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